Gradientenwerkstoffe
Die Anforderungen an Werkstoffe und deren Funktionalitäten werden zunehmend komplexer. Von einem Werkstoff alleine können die inzwischen meist sehr spezifischen, teils gegenläufigen Materialanforderungen zumeist nicht erfüllt werden. Dem Problem begegnet man häufig mit der Kombination unterschiedlichster Polymere, Metalle und Keramiken. Dabei können abrupte Übergänge zwischen Materialien mit deutlich unterschiedlichen Eigenschaften auftreten, die jedoch bei Belastung oftmals Schwachstellen innerhalb eines Materialsystems darstellen. Solchen homogenen Kompositen steht das Konzept der Gradientenwerkstoffe gegenüber, das auf sachten Eigenschaftsänderungen basiert.
Gradientenwerkstoffe weisen einen kontinuierlichen räumlichen Verlauf auf, der durch Variation der chemischen Zusammensetzung oder der Anteile einzelner Kompositbestandteile im dreidimensionalen Raume erreicht wird und mit einer entsprechenden Variation der Materialeigenschaften verbunden ist. Zunehmend wird dieser räumliche Verlauf der Materialeigenschaften auch durch Variationen der Mikrostruktur oder der Verteilung von Poren – und somit des strukturellen Aufbaus – erreicht. Mit diesen Parametern können die thermischen, mechanischen, elektrischen, optischen, magnetischen oder biologischen Eigenschaften des Werkstoffs beeinflusst werden.
Bereits in den 1980er-Jahren wurden in Japan die bis dato überwiegend theoretisch beschriebenen Gradientenwerkstoffe als dünne thermische Barriere für Raumfahrtanwendungen realisiert. Speziell die dort auftretenden asymmetrischen Belastungen stellen extreme Anforderungen an die eingesetzten Werkstoffe dar und profitierten stark vom Konzept der Gradientenwerkstoffe. Ihre Nutzung beschränkte sich lange Zeit auf gradierte Oberflächen, während die Herstellung solcher Massivwerkstoffe schnell an ihre Grenzen stieß. Eine neue Dynamik ist jedoch durch die zunehmend etablierten additiven Fertigungsverfahren zu beobachten. Durch die Realisierung von Gradientenwerkstoffen verspricht man sich daher einerseits weniger schadensanfälligere Übergänge zwischen Materialien mit deutlich unterschiedlichen Eigenschaften. Andererseits könnten mit Gradierungen gerade durch die additive Fertigung innerhalb eines dreidimensionalen Werkstücks auch spezifische Eigenschaften exakt an der Stelle des Bedarfs zu Verfügung gestellt werden. Dies entspricht dem generellen Trend der bedarfsgerechten Fertigung.
Gradientenwerkstoffe könnten als Strukturwerkstoffe bei sehr hohen Betriebstemperaturen Anwendung finden, z. B. in Kraftwerken. Im Bereich der Energieerzeugung könnten sie darüber hinaus auch für Solarzellen und thermoelektrische Generatoren genutzt werden. Zudem wird ihr Einsatz bei der Zustandsüberwachung von Bauteilen (Verschleißindikatoren unabhängig von der Form des Bauteils), in Medizinprodukten oder in der Luftfahrt sowie der Automobilindustrie in Erwägung gezogen. Hier spielen Aspekte wie der Leichtbau, das Crash-Verhalten und die Dämpfung von Schall oder Vibrationen eine große Rolle. Gradientenwerkstoffe sind speziell dann von Interesse, wenn asymmetrische Belastungen ausgeübt werden, daher sind darüber hinaus Leistungssteigerungen bei ballistischen Schutzmaterialien möglich.
Die technologische Reife reicht, abhängig vom Materialsystem, von der industriellen Nutzung bis hin zur Grundlagenforschung. Beispielsweise sind gradierte Massivwerkstoffe auf Polymerbasis am weitesten vorangeschritten. Bisher wenig betrachtete Aspekte wie Langzeitstabilität und Schadensentwicklung sowie die verlässliche Zuordnung von Ort und Eigenschaft im Rahmen einer Qualitätskontrolle führen zu wesentlichen Herausforderungen. Dennoch könnten langfristig gesehen Gradienten im Rahmen des Konzeptes Materials-by-Design auch gezielt als eines von vielen Design-Elementen genutzt werden, um hochgeordnete, komplexe Strukturen zu entwerfen, deren Materialeigenschaften die Grenzen der derzeit verfügbaren Kombinationen ausweiten könnten.