Alles in bester Ordnung, weiter so? Wohl kaum.
Liebe Leserinnen und Leser,
dies ist ein besonderes Vorwort. Zumindest ist es für mich etwas Besonderes, denn es ist das zehnte, das ich für einen Jahresbericht des Fraunhofer INT schreiben darf. Deshalb beginnt es auch so, wie das erste begonnen hat.
Typischer Weise nimmt man ja solche markanten Daten zum Anlass, ein wenig Rückschau zu halten, die wichtigsten Ereignisse herauszugreifen und vor allem die Erfolge Revue passieren zu lassen.
Da gäbe es durchaus einiges zu erwähnen: das Institut hat sehr erfolgreich zwei Strategiezyklen durchlaufen und dabei eine große Umstrukturierung hinter sich gebracht; zwei Abteilungen wurden aufgelöst und zu einer neuen fusioniert, neue Geschäftsfelder wurden gegründet.
Das Bundeswehr-Geschäft wurde ausgeweitet und neue Partner*innen im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) sowie den nachgeordneten Dienststellen konnten gewonnen werden. Das zivile Geschäft wurde auf eine breitere Basis gestellt; es zeigt solides, kontinuierliches Wachstum. Mit der Geschäftsstelle der Fraunhofer-Allianz Space wurde der Grundstein für ein eigenes Geschäftsfeld gelegt, und die Erweiterung zum Leitmarkt Luft- und Raumfahrtwirtwirtschaft eröffnet die Chance, das Fraunhofer INT als den bevorzugten Ansprechpartner in Sachen Raumfahrt bei Fraunhofer zu etablieren. Zahlreiche Kooperationen mit Hochschulen wurden vereinbart, der Lehrstuhl an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen ist fester Bestandteil des Instituts geworden und nicht zuletzt hält das Fraunhofer INT inzwischen fünf(!) Professuren.
Alles in allem also eine gute Bilanz, würdig im zehnten Vorwort entsprechend schillernd dargestellt zu werden. Und offensichtlich so stabil, dass selbst das Pandemie-Geschehen keine wirtschaftlichen Einbrüche verursachen konnte.
Also: alles in bester Ordnung, weiter so? Wohl kaum. In der Nacht des 14. Juli 2021 hat das zugeschlagen, was ich im Vorwort des vergangenen Jahres noch mit dem gehörigen Abstand wissenschaftlicher Objektivität als Wild Card bezeichnet habe: ein zwar denkbares, aber im höchsten Maße unwahrscheinliches Ereignis, das ungeahnte Auswirkungen haben kann.
Eine Flutkatastrophe bislang nicht gekannten Ausmaßes hat den Kreis und die Stadt Euskirchen getroffen, großflächige Verwüstungen angerichtet und Menschenleben gefordert. Auch das Fraunhofer INT ist betroffen: die komplette Infrastruktur überflutet; der Keller und die Erdgeschosse sämtlicher Gebäude durch Wasser und Schlamm nicht mehr benutzbar und ein großer Teil der experimentellen Ausrüstung unbrauchbar geworden. Am Morgen des 15. Juli fand sich das Fraunhofer INT mitten in einem Krisengebiet wieder, ohne Elektrizität, Telekommunikation, Internet und selbst ohne die grundlegende Versorgung mit den einfachsten Dingen. Etliche Mitarbeitende haben auch persönlich Schaden erlitten.
Das große Glück im Unglück: es waren weder ernste Verletzungen noch Todesfälle bei den Mitarbeitenden und ihren Familien zu beklagen.
Innerhalb weniger Minuten, in denen Wasser und Schlamm ihr zerstörerisches Werk verrichtet haben, wurde das Fraunhofer INT zu einem Reallabor für das, was ich ebenfalls im Vorwort des Jahresberichts von 2020 als die Fähigkeit eines Systems, nach einer Krise mit Notlaufeigenschaften weiter zu funktionieren und möglichst schnell wieder in den Normalbetrieb zurückzufinden, beschrieben habe – nichtsahnend, dass auch wir diese Fähigkeit bald benötigen würden.
Und unmittelbar waren wir vor die Frage gestellt, wie man ein Forschungsinstitut mit den oben beschriebenen Zerstörungen dazu bringt, in kurzer Zeit wieder exzellente Forschungsergebnisse zu erzielen? Oder anders formuliert: wie resilient ist das Fraunhofer INT?
Aller guten Dinge sind drei, sagt das Sprichwort, und das stimmt auch in diesem Fall. Erstens braucht man hochmotivierte Mitarbeitende, die absolut solidarisch mit ihrem Institut sind, Laborkittel und Bleistift mit Arbeitshandschuhen und Gummistiefeln austauschen und ohne zu zögern wochenlang Schlamm schippen, kaputte Möbel schleppen, auf Knien Kabelkanäle putzen, …
Zweitens ein Netzwerk aus verlässlichen Kolleg*innen und Freund*innen, die einem Unterschlupf gewähren, Arbeitskräfte und Gerätschaften zur Verfügung stellen, eine Sammlung für die Geschädigten organisieren, beim Wiederaufbau in allen Belangen behilflich sind, …
Und drittens auch eine gehörige Portion Glück, z. B. dass alle Daten trotz eines brachialen Server-Shutdowns überlebt haben und die Forschungen praktisch an dem Punkt fortgesetzt werden konnten, wo sie in der Mittwochnacht unterbrochen wurden.
All das macht das Fraunhofer INT zu einer äußerst resilienten Organisation. Mein ausdrücklicher Dank geht an alle Mitarbeitenden des Instituts, an die Kolleg*innen in München und auf dem Wachtberg, an unsere Freund*innen und Helfer*innen bei der Bundeswehr und allen, die uns in dieser Krise beistehen.
Auch wenn wir bereits mit den Aufräumungsarbeiten weit vorangeschritten sind: es wird sicher noch eine lange Zeit dauern, bis das Institut wieder zu einem Normalbetrieb in intakter Infrastruktur zurückfinden kann. Aber eines ist auch sicher: gemeinsam werden wir das Fraunhofer INT wiederaufbauen, und in der Zwischenzeit wird es auch in Interimsstrukturen wie gewohnt exzellente Forschung für Staat und Gesellschaft erbringen.
Lesen Sie im Jahresbericht 2021 von den spannenden Themen, mit denen wir uns im Institut beschäftigen, der Pandemie und der Flut zum Trotz.
Bleiben Sie uns gewogen und schauen Sie mit uns positiv in die Zukunft!
Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen,
Ihr
Prof. Dr. Dr. Michael Lauster