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KI-geleitetes Wirkstoffdesign

Spätestens seit der Veröffentlichung von ChatGPT Ende 2022 ist Künstliche Intelligenz in unserem Alltag angekommen. Auch Menschen, die sich sonst wenig für technologische Innovationen interessieren, machen sich heute Gedanken darüber, wie sich KI-Technologien auf ihr Leben auswirken könnten – wobei die Chancen und Risiken schwer abzuschätzen sind und kontrovers diskutiert werden. Ein spannendes, in der Öffentlichkeit aber kaum beachtetes Anwendungsfeld für KI liegt im Bereich der Lebenswissenschaften, wo maschinelle Lernverfahren und intelligente Systeme bahnbrechende Fortschritte bei der Behandlung von Krankheiten in Aussicht stellen.

Programme wie »AlphaFold« des Google-Tochterunternehmens Deepmind oder »RoseTTAFold« basieren – ähnlich wie ChatGPT – auf sogenannten großen Sprachmodellen (hier Large Protein Language Models), welche Deep-Learning-Verfahren und umfangreiche öffentliche Datenbanken verwenden, um Zusammenhänge zwischen Aminosäuresequenzen, Proteinstrukturen und Proteinfunktionen zu verstehen, vorherzusagen und zu generieren. Nach einer entsprechenden Trainingsphase sind sie in der Lage, alleine aufgrund einer vorgegebenen Aminosäuresequenz die dreidimensionale Struktur eines Proteins zu berechnen – eine gewaltige Aufgabe, denn bereits eine verhältnismäßig kurze Molekülkette aus etwa hundert Aminosäuren kann theoretisch Milliarden verschiedener Formen annehmen, liegt in der Natur aber doch stets nur in einer Konformation vor. Während die experimentelle Aufklärung dieser sogenannten nativen Struktur mithilfe der Röntgenkristallografie oder der Kryoelektronenmikroskopie als äußerst schwierig, teuer und zeitaufwändig gilt, könnten die Methoden der virtuellen Strukturaufklärung schon in naher Zukunft helfen, einige der schwierigsten molekularbiologischen Rätsel zu beantworten.

Weil Proteine als Enzyme, Regulatoren, Rezeptoren, Transporter usw. vielfältige biologische Funktionen erfüllen, sind sie ein gängiges Ziel für pharmazeutische Interventionen, die im Körper eine bestimmte Reaktion hervorrufen sollen (z. B. Schmerzmittel). Programme wie Alphafold könnte hier eingesetzt werden, um Proteine mit bestimmten Schlüsselfunktionen zu modellieren, die medikamentös beeinflusst werden sollen (sogenannte Targets). Neben Vorhersagen zur allgemeinen Eignung eines Targets könnte die KI im Rahmen eines strukturbasierten Wirkstoffdesigns dabei helfen, Wirkstoffkandidaten zu identifizieren, die aufgrund ihrer eigenen Raumstruktur eine besonders hohe Bindungsaffinität zum Target zeigen und so eine optimale Wirkung in Aussicht stellen. Der langwierige und von Rückschlägen gekennzeichnete Prozess der Arzneimittelentwicklung könnte so zeit- und kosteneffizienter gestaltet werden.

Andere KI-Anwendung (beispielsweise »ProtGPT«) kehren den Dreiklang »Sequenz – Struktur – Funktion« um und sind in der Lage, maßgeschneiderte und zweckoptimierte Proteine von Grund auf neu zu designen, indem sie entsprechende Aminosäuresequenzen generieren. Sie könnten in der Biomedizin eingesetzt werden, um experimentell zu erforschen, welche Proteinfehlfunktionen ursächlich für Autoimmunerkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, neurodegenerative Erkrankungen und andere Krankheitsbilder verantwortlich sind. Sie könnten aber auch genutzt werden, um spezifische Antikörper zu entwerfen, die Erreger wie Ebola, Pocken oder SARS erfolgreich neutralisieren können. Auf diese Weise könnte es der fortschreitende Einsatz von KI-Anwendungen zukünftig ermöglichen, schneller und besser auf pandemische Ereignisse zu reagieren, der zunehmenden gesundheitlichen Bedrohung durch multiresistente Erreger zu begegnen und Therapieansätze für bisher unbehandelbare Krankheiten eröffnen.

Natürlich zeitigt das de-novo-Design von Proteinen für spezifische Aufgabestellungen aber auch jenseits der Medizin weitreichende Auswirkungen – beispielsweise in der weißen oder grauen Biotechnologie. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die KI in den Lebenswissenschaften den in sie gesetzten Hoffnungen gerecht werden kann. 

Dieser Trend-NEWSletter-Artikel wurde im Juni 2024 veröffentlicht.

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