Denken mit Zukünften - Szenariomethodologie
Angesichts der sich rasant ändernden, unsicheren und hoch komplexen Wirklichkeit ist es heute mehr denn je notwendig, Entscheidungen vorausschauend zu reflektieren und zukunftsfähig auszurichten. Die Szenariomethode ist ein seit Jahren bewährtes und sich immer noch großer Beliebtheit erfreuendes Werkzeug der strategischen Vorausschau. Das umfasst sowohl den Umgang mit Mehrdeutigkeit, Komplexität und Ungewissheit der Zukunft sowie die Integration von handelnden Akteuren, und zwar insbesondere dann, wenn eine geeignete Datenbasis für quantitative Analysen fehlt. Hier werden auf wissenschaftlich-methodische Weise Zukunftsbilder (Szenarien) generiert, ausgehend von begründeten Annahmen über die Zukunft, die sich wiederum auf Hypothesen über Wirkungsgefüge stützen, die konsistent, d. h. widerspruchsfrei, in einen einheitlichen Rahmen gebracht werden.
Szenarien bilden mögliche Entwicklungswege und mögliche künftige Situationen ab, wobei sie sich stets auf ein Thema und sein unmittelbares Umfeld fokussieren. Man unterscheidet u. a. normative Szenarien, die mit Blick auf eine erwünschte Zukunft konstruiert und oftmals mit Hilfe der Methode des sogenannten Backcastings an die Gegenwart angeschlossen werden, und explorative Szenarien, die der ergebnisoffenen Erkundung unterschiedlicher Zukünfte dienen. Häufig wird auch die Unterscheidung in trendbasierte, systematisch formalisierte oder kreativ-narrative Szenarien gewählt. Die Szenariomethode ermöglicht die Erstellung einer Reihe möglicher Zukünfte, die helfen, das "was sein könnte" auf divergierende Weise auszudrücken – illustriert wird dies häufig durch den so genannten Szenariotrichter (s. Abbildung 1).
Mit Hilfe von Szenarien lassen sich im Optimalfall die Grenzen des Wissens verschieben, wobei ein Out-of-the-Box-Denken oder die Einbeziehung von Diskontinuitäten oder Disruptionen zum Einsatz kommen. Von großer Bedeutung sind die sogenannten Wild Cards, d. h. seltene und überraschende Ereignisse mit massiven Auswirkungen, und Black Swans, d. h. Ereignisse, die ebenfalls enorme Auswirkungen entfalten und den bisherigen Erfahrungen widersprechen und erst in der Rückschau erklärt werden können.
Dieser Raum für Improvisation und Kreativität darf allerdings nicht überstrapaziert werden, denn die Qualität des Prozesses sowie deren Ergebnisse wird durch die Einhaltung von wissenschaftlichen Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung gewährleistet.
Abbildung 1: Szenariotrichter (© Birgit Weimert)
Eine ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl mit den neuesten Methodenentwicklungen als auch mit Beispielen im praktischen Kontext (best practices) ist für die Arbeit des Fraunhofer INT genauso wichtig wie wissenschaftliche Eigenentwicklungen und die Reflektion eigener Szenariostudien (lessons learnt), wie z. B. im Jahr 2018 im Rahmen der „Zukunftsvorausschau Raumfahrt 2040“. Dieses Jahr haben wir uns in Form eines Reviews mit dem aktuellen Stand der Szenariomethodologie auseinandergesetzt sowie real durchgeführte Szenarioprozesse kritisch durchleuchtet. Es gibt immer noch zahlreiche Studien, deren Unzulänglichkeiten im Prozessdesign, unzureichende Problemdefinitionen, Verzerrungen, gravierende methodologischen Fehler oder fehlende Transparenz zu unwissenschaftlichen und nutzlosen Ergebnissen führen. Fehlt die eigene Methodenkompetenz, so ist eine Unterstützung von Expert*innen deshalb unerlässlich. Der Review soll in dieser Hinsicht Erfolgsfaktoren und Fallstricke aufzeigen, um die Szenariomethodologie erfolgreich anwenden zu können.
Im Folgenden werden einige Punkte, die im Rahmen unserer Literaturrecherche vertieft wurden, kurz angerissen. Beispielsweise sollte die erste Frage bei den Überlegungen zu einem Szenarioprozess immer lauten, ob Szenarien überhaupt die geeignete Forschungsmethode für die vorliegende Aufgabenstellung bzw. Ziele darstellen, oder es besser geeignete alternative Methoden gibt. Nach dem Abstecken der Rahmenbedingungen (inhaltlich, zeitlich, geographisch) erfolgt dann die konkrete Ausgestaltung der Szenariomethode. Mittlerweile gibt es eine derart große Vielfalt an unterschiedlichen Varianten sowie Kombinationen mit weiteren Zukunftsforschungsmethoden, dass einige Zukunftsforschende dies als aufzulösendes „methodisches Chaos“ sehen, andere deren Diversität als notwendige Adaption an die unterschiedlichen Aufgabenstellungen/ Ziele begrüßen. Diese Unschärfe, die sowohl dem Szenariobegriff an sich als auch dem Prozess anhaftet, macht einerseits anfällig für Missbrauch, sorgt aber auf der anderen Seite auch für vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Diese ergeben sich u. a. aus den unterschiedlichen Anwendungsbereichen und Zielsetzungen. Letztere unterscheiden (1) Exploration und Analyse, (2) Planung, Antizipation und Vorbereitung, (3) Diversität and Inklusion, (4) Kommunikation und (5) Lehre und Training.
Es gibt außerdem eine Vielzahl an Unterteilungen des Szenarioprozesses, wobei die einfachste lediglich die Generierung und Nutzung von Szenarien trennt. Dazu haben wir ein generisches Prozessmodell zusammengestellt (s. Abbildung 2), das frühere Ergebnisse mit einbezieht und sich aus sechs Schritten zusammensetzt. In den Schritten 1-3 werden die Szenarien entwickelt. In Schritt 4 sind u. a. die „Erkundung“ der Szenarien sowie Diskussionen über Implikationen beheimatet. Aus dem Denken mit Zukünften lassen sich z. B. konkrete Optionen und Handlungserfordernisse identifizieren, um die langfristige und effektive Anpassung an die Zukünfte gewährleisten zu können. Schritt 5 beinhaltet den Transfer des in den vorhergehenden Schritten generierten Wissens an Beteiligte, die bisher nicht direkt in den Szenarioprozess involviert waren. Schritt 6 umfasst die Einrichtung laufender Aktivitäten wie den Aufbau von Systemen zur Überwachung von Veränderungen auf der Grundlage identifizierter Indikatoren sowie die daraus folgenden notwendigen Maßnahmen.
Abbildung 2: Szenarioprozess (© Birgit Weimert)
Für die einzelnen Prozessschritte steht eine Auswahl an Methodenbausteinen zur Verfügung, sodass sich ähnlich einem morphologischen Kasten ein adäquates Prozessdesign für die Aufgabenstellung zusammenstellen lässt (Variationen). Dabei ist darauf zu achten, dass die Schnittstellen zwischen den Verfahrensschritten definiert sind und sie eine konsistente Umsetzung unterstützen. Gleiches gibt für die Kombination von Methoden, die z. B. die Erweiterung der Aufgabenstellung bzw. Ziele, ein besseres Verständnis von Themen oder die Anpassung an spezielle Zwecke erlaubt. Auch hier ist eine bloße Aneinanderreihung von Methoden weniger zielführend als die Nutzbarmachung von Synergieeffekten durch ein „Verweben“ von Methoden. Als besonders erfolgreiche Kombinationspartner haben sich u. a. Modellierung und Simulation, Delphi, Roadmapping und Serious Gaming erwiesen.