Eigentlich paradox: ein mikroskopisch kleines Etwas zwingt uns, in globalen Maßstäben zu denken
Liebe Leserinnen und Leser,
wer hätte das gedacht?
Ein mikroskopisches Etwas, das nicht einmal als Lebewesen gilt, startet einen weltweiten Großangriff, legt das gesamte gesellschaftliche Leben lahm und fordert sogar in großem Umfang Menschenleben.
Unvorstellbar?
Nicht wirklich – im Jahr 2013(!) hat das Fraunhofer INT eine Studie mit dem Titel „Pandemische Influenza in Deutschland 2020“ vorgelegt, in der eine ähnliche Situation und deren Bewältigung anhand dreier Szenarien durchgespielt und Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger*innen aus Politik und Gesellschaft ausgesprochen werden.
Bei aller Tragik, die das Geschehen mit sich bringt, ist ein solcher Treffer für eine*n Zukunftsforscher*in ein absoluter Glücksfall, zeigt er doch, dass die verwendeten wissenschaftlichen Methoden Hilfestellung bei der Bewältigung der Herausforderungen unserer modernen Welt bieten können.
Mal abgesehen von ein wenig Eigenlob für die Vorstellungskraft und den Weitblick der beteiligten Kolleg*innen, lässt sich dazu Folgendes sagen:
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Diese Pandemie war nichts Undenkbares oder Unvorhersehbares, sondern etwas, das in der Zukunftsforschung als „Wild Card“ bezeichnet wird. Man weiß, dass ein derartiges Ereignis eintreten kann (und wird!), zwar mit ungewissem Eintrittszeitpunkt und relativ geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, dafür aber mit gravierenden Auswirkungen – eigentlich ein deutlicher Fingerzeig, sich darauf einzustellen. Die in der Studie ausgesprochenen Handlungsempfehlungen waren eher niedrigschwellig und einfach, wenn auch mit gewissem finanziellem Aufwand, umsetzbar; sie entsprechen dem, was im Verlauf des Jahres 2020 dann mit Verzögerungen tatsächlich angewendet wurde.
Auch wenn es müßig ist, im Nachhinein darauf zu bestehen, es besser gewusst zu haben: einige wichtige Forschungsfragen drängen sich sofort auf.
Auf welche Krisen kann man sich prinzipiell vorbereiten und auf welche nicht? Bei welcher Art von Krisen rentiert sich eine Vorbereitung? (Diese Frage ist besonders heikel, wenn es um Menschenleben geht und finanzielle sowie personelle Aufwände gegengerechnet werden!) Welchen Umfang sollte eine solche Vorbereitung haben?
Mit diesen Fragen gelangt man sofort in ein hochaktuelles Gebiet aus den Grundlagen der Sicherheitsforschung. Die Resilienz als Fähigkeit eines Systems, eine Störung von außen zu verkraften und in kurzer Zeit wieder zum Normalzustand zurückzufinden, ist im Augenblick in aller Munde. Und dabei geht es nicht nur um ein paar Begriffsdefinitionen und Allgemeinplätze, sondern vor allem um handfeste, disziplinübergreifende Mess- und Rechenmethoden. Lässt sich die Resilienz einer Gesellschaft beziffern? Können die Auswirkungen von Einsparmaßnahmen im Bereich von Personal und Infrastruktur auf die Widerstandsfähigkeit eines Staates gegen Bedrohungen gemessen werden? Welche Investitionsmaßnahmen sind sinnvoll, welche möglicherweise übertrieben? Lassen sich allgemein für ein System Grenzen angeben, unter- und oberhalb derer Resilienz nicht möglich ist?
Zwar hat die aktuelle Pandemie diese Fragen nicht ursächlich aufgeworfen, aber sie hat sie in den Vordergrund gebracht und ihre Wichtigkeit betont. Eigentlich paradox: ein mikroskopisch kleines Etwas zwingt uns, in globalen Maßstäben zu denken.
Eines ist sicher, nach der Krise ist vor der Krise und auch Covid-19 wird nicht das letzte seiner Art sein. Wie immer die nächste Herausforderung auch aussehen mag, die Beschäftigung mit unserer Zukunft wird für unsere globalisierten, hochtechnologischen – aber dadurch auch immer verletzlicheren – Gesellschaften immer wichtiger. Zukunftsforschung, mit wissenschaftlichen Methoden betrieben, kann Erkenntnisse liefern, die es Entscheidungsträger*innen ermöglichen, unsere moderne Welt sicherer und widerstandsfähiger gegen zahlreiche Bedrohungen zu machen.
Seit mehr als 40 Jahren ist das Fraunhofer INT auf diesem Gebiet tätig und beschäftigt sich mit den zukünftigen Herausforderungen neuer Technologien und Sicherheitsfragestellungen. Es leistet damit seinen Beitrag, unsere Gesellschaft sicher in die Zukunft zu tragen.
Dieser Jahresbericht enthält einige Resultate unserer Forschungen im Pandemie-Jahr 2020. Er gibt, wie jedes Jahr, einen Einblick in die spannenden Fragestellungen, mit denen sich die Euskirchener Forscher*innen beschäftigen.
Bleiben Sie negativ und schauen Sie positiv mit uns in die Zukunft!
Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen,
Ihr
Prof. Dr. Dr. Michael Lauster